„Dirigieren ist ein wenig wie Schwimmen“
So mannigfaltig die Art der Instrumente im Orchester, so ist auch die der Gesangsstimmen in einem Chor oder Vokalensemble. Dass dies für den Dirigenten eines Chors eine Herausforderung darstellen kann, liegt auf der Hand. Nicht auf, sondern eher in der Hand desselben liegen andere Fragen: Was macht eigentlich gute Chorleitung aus? Wie bringt man einzelne Stimmen zu einem Ensemble zusammen? Und: Gibt es Unterschiede in der Chor- und Gesangskultur anderer Länder? Gibt es den „Despot“ am Taktstock noch? Im Interview hierzu Chordirigent Benjamin Hartmann.
von Winfried Hyronimus
Hallo Benjamin!
Guten Tag.
Du bist Chordirigent! Mit deinen Sängerinnen und Sängern des „Verum Audium Vokalensemble“ bist du ja nun seit einiger Zeit überregional unterwegs.
Das stimmt. Letztes Jahr haben wir ein schönes Projekt mit dem Titel „Nach(t)klänge…“ gemacht, das wir unter anderem bei den Musiktagen Südpfalz aufgeführt haben. Die fast kathedralhafte Akustik von St. Leodegar in Steinfeld hat uns sehr beeindruckt, vor allem hat sie perfekt zu unserem Repertoire gepasst. Mit diesem Programm wurden wir 2019 dann noch in die Stunde der Kirchenmusik nach Heilbronn eingeladen.
Im Juni hatten wir eine intensive Phase, weil wir in kürzester Zeit ein überwiegend neues Programm aufführungsreif lernen mussten: „Vergötterung“ ist diesmal das Thema, es geht um das „Anhimmeln“ im doppelten Sinn: Natürlich in zwischenmenschlicher Hinsicht (mit Stücken aus Scheins Israelsbrünnlein, aus Poulencs Sept Chansons, vielleicht kommt auch noch etwas Daniel-Lesur dazu), aber auch die Vergötterung in geistlicher Dimension: Credo von Rautavaara oder das geradezu ekstatische IUPPITER von Michael Ostrzyga.
Beim Chorfest des Schwäbischen Chorverbandes im Rahmen der BUGA Heilbronn haben wir uns besonders mit Komponisten aus Württemberg wie Emilie Zumsteeg und Johann Nepomuk David beschäftigt. Außerdem habe ich in den vergangenen Monaten in Cambridge zwei kleinere Verum-Audium-Projekte machen können, und zwar mit tollen lokalen Sängerinnen und Sängern aus den bekannten College-Chören wie Trinity, Caius oder St. John’s.
Die Sänger des VAVE kommen aus ganz Deutschland. Wie findet sich so ein Ensemble und, viel wichtiger: wie vereinigt man so viele verschiedene Stimmen zu einem funktionierenden Ganzen?
Nicht nur aus Deutschland! Wir hatten sogar Sängerinnen und Sänger aus Antwerpen oder Innsbruck mit dabei. Die Mehrheit ist natürlich schon aus Deutschland, aber wir sind ziemlich verstreut zwischen Lübeck, Hannover, Leipzig, Saarbrücken, Mainz, Stuttgart etc. Daher ist klar, dass wir uns nur projektbezogen zu unseren Proben und unseren Konzerten treffen können. Das sind immer ziemlich intensive Tage mit Proben, viel Singen, hoffentlich nicht zu viel Pfälzer Wein und meist wenig Schlaf…
Teilweise mache ich es auch umgekehrt: Statt die Sängerinnen und Sänger reisen zu lassen, fahre ich selbst nach Hannover oder Leipzig und mache dort Vorproben mit einem Teil des Ensembles. Diese individuelle Arbeit ist sicher ein Schlüssel zu einem einheitlichen Ensembleklang, da wir dann intensiv an der Gestaltung arbeiten können, an einheitlicher Aussprache und Vokalisation, an einem gemeinsamen Ausdruck und Affekt.
„Bei einem Vokalensemble trägt jeder ziemlich viel zum Endresultat bei, wenn wir z. B. 14 Leute sind, dann trägt jeder 1/14 der Verantwortung für den gemeinsamen Klang. Das ist ziemlich viel, denn keiner kann sich in der Masse verstecken. Aber darin liegt ja gerade auch der spezielle Reiz.“
Bei einem Vokalensemble trägt jeder ziemlich viel zum Endresultat bei, wenn wir z. B. 14 Leute sind, dann trägt jeder 1/14 der Verantwortung für den gemeinsamen Klang. Das ist ziemlich viel, denn keiner kann sich in der Masse verstecken. Aber darin liegt ja gerade auch der spezielle Reiz: Ich kann mich mit meinem individuellen Timbre und meiner Musikalität direkt in den gemeinsamen Klang einbringen und werde darin gehört. Wenn alle stets aufeinander hören, wird ein gemeinsames Ganzes daraus.
Wofür steht dabei eigentlich „Verum Audium“?
Schön, dass Du Dich dafür interessierst – es ist nicht das erste Mal, dass ich das gefragt werde. Der Name kommt vielleicht anfangs etwas ungewöhnlich daher. Ich suchte nach einem Begriff, sozusagen nach einer kulturellen „Dachmarke“, die meine freiberuflichen künstlerischen Tätigkeiten bündelt. Zwei Dinge haben mich dann zu diesem Namen inspiriert: Zum einen gibt es ein Zitat des römischen Philosophen Seneca, das im großen Saal des Leipziger Gewandhauses geschrieben steht: „RES SEVERA VERUM GAUDIUM“ – „Wahre Freude ist eine ernste Sache“. Ich kann mich selbst für Alte Sprachen begeistern, und als ich zu Studienbeginn in Leipzig meine ersten Konzerte im Gewandhaus-Chor singen durfte, hat mich dieses Leitmotto spontan angesprochen und inspiriert. Ich habe das Seneca-Zitat dann noch mit dem Verb „audīre“ – „hören“ verbunden und so wurde der Kunstbegriff Verum Audium daraus. Das Aufeinander-Hören ist für mich absolut der Schlüssel zu einem gelungenen Musizieren im Ensemble und inhaltlich passt es doch auch sehr gut zu einem ambitionierten Vokalensemble: Spaß und Ernsthaftigkeit sind gleichberechtigt mit dabei.
Ihr habt ja auch eine Demo-CD veröffentlicht…
Ja, genau! Als noch junges Ensemble wollten wir so etwas wie eine klangliche Visitenkarte haben, um uns bei Konzertreihen oder Veranstaltern bekannt zu machen und ins Gespräch zu bringen. Das Programm der Demo-CD stammt von unserem Passionsprojekt „7x3“ aus dem Jahre 2017, in dem wir uns mit den Sieben Letzten Worte Jesu am Kreuz aus drei Jahrhunderten beschäftigt haben… Ich konnte meine ehemalige Lehrerin und professionelle Sprecherin Annetraud Flitz für die Sprechtexte gewinnen und so wurde eine runde Sache daraus.
Knut Nystedt: 1. Wort aus: Die Sieben Worte Jesu am Kreuz op. 171
Vokalensemble Verum Audium, Ltg. Benjamin Hartmann
Albert Becker: Die Sieben Worte des Erlösers am Kreuz op. 85, 4
Vokalensemble Verum Audium, Ltg. Benjamin Hartmann
Sprecherin: Annetraud Flitz
„Und als sie kamen an die Stätte“ – 1. Wort
„Darnach, da Jesus wusste“ – 5. Wort
„Und die Sonne verlor ihren Schein“ – 7. Wort
Wie würdest du die Zusammenarbeit mit einem Tonmeister aus deiner Sicht beschreiben? Gibt es da Parallelen zu deiner Herangehensweise als Dirigent, oder Kommunikationsebenen die sich als fruchtbar erwiesen haben?
Ein guter Tonmeister steht dem Dirigenten immer mit einem zweiten Paar gut geschulter Ohren zur Seite, denn vier Ohren hören mehr als zwei. Das gilt umso mehr, je mehr der Dirigent während der Aufnahme mit Leib und Seele ins Dirigieren involviert ist, als würde er „im Konzertmodus“ dirigieren. Der Tonmeister, meist ohne direkten Sichtkontakt, separat platziert, versunken in Noten und Kopfhörer, hat dann oft eher die nötige kritische Distanz zum akustischen Resultat. Wenn der Dirigent z. B. den großen Bogen eines Stücks, Ausdruck und Interpretation im Blick hat, kann der Tonmeister auf die technischen Details achten: Stimmt die Intonation (gerade bei A-cappella-Aufnahmen), ist das Tempo konsistent, versteht man den Text, sind Störgeräusche zu hören, kann man verschiedene Takes gut kombinieren oder braucht man den Übergang dazu, und so weiter. Die Rollenverteilung geht natürlich auch umgekehrt. So entsteht idealerweise die Situation, dass Dirigent und Tonmeister sich als künstlerische Partner auf Augenhöhe die Bälle gegenseitig zuspielen.
Das kann für das Ensemble auch psychologisch nützlich sein: Dadurch, dass die Rückmeldungen von zwei Personen mit anderem Blickwinkel kommen und mit unterschiedlichem Zungenschlag formuliert sind („good cop / bad cop“), können die Sängerinnen und Sänger oft besser darauf reagieren. Es gibt nichts Blöderes, als sich beim Aufnehmen total an einer Stelle festzubeißen und zu verrennen, denn das hört man später leider auch. Insofern tut ein gutes Aufnahmeteam aus Dirigent und Tonmeister auch der Stimmung während der Aufnahmesession gut.
Welchen Stellenwert haben für dich Aufnahmen?
Wie gerade schon angesprochen, können Aufnahmen erst einmal ein Mittel der Öffentlichkeitsarbeit sein, gerade wenn ein Ensemble noch nicht so bekannt ist. Aber natürlich sind Aufnahmen viel mehr als das: Sie bilden den Abschluss einer längeren Beschäftigung mit einem Werk, sie dokumentieren eine persönliche interpretatorische Sicht auf das Stück und die eigene klangliche Handschrift. Der vielleicht etwas abgenutzte (und bei manchen Kritikern auch allzu leichtfertig gebrauchte) Begriff der „Referenzaufnahme“ weist darauf hin, dass Aufnahmen auch in die Musikwelt hinein wirken (sollen), einen technischen und stilistischen Standard markieren, an dem andere sich orientieren können. Die vielen herausragenden Originalklangaufnahmen der letzten Jahrzehnte im Bereich der Alten Musik hatten sicherlich diese Wirkung. Aber ich würde das nicht zu dogmatisch sehen: Aufnahmen spiegeln die Vielfalt der Interpretationen wider, machen unbekanntes Repertoire bekannt und zeigen, wie unterschiedlich verschiedene Klangkörper klingen können.
Für das Ensemble selbst ist eine Aufnahme immer eine Herausforderung, da es alle zwingt, sich noch einmal intensiv mit den Details der Stücke auseinanderzusetzen. Man muss künstlerisch Farbe bekennen, denn blasse Aufnahmen will kein Mensch hören. Das ist aber ein Prozess, der sich langfristig lohnt und auch Spaß macht: die besten Konzerte hatte ich teilweise direkt nach einer Aufnahmesession, als alle Details wirklich saßen und im Konzert die Musik völlig selbstverständlich von der Hand ging.
Eine Aufnahme bedeutet auch immer eine gewisse Konfrontation. Ziemlich häufig sind Sänger sehr überrascht oder sogar schockiert, wenn sie zum ersten Mal die eigene Stimme hören. Wie geht es dir da als Ensembleleiter?
Für die Ensemblemitglieder bei Verum Audium ist die Aufnahmesituation in der Regel nicht neu und daher auch nicht so einschüchternd, weil alle schon vergleichbare Erfahrungen in anderen Chören auf hohem Niveau gemacht haben. Amateurchöre muss man unter Umständen behutsam auf diese Konfrontation vorbereiten. Denn natürlich sind Aufnahmen, das gilt allerdings für alle Levels, manchmal unbarmherzig. Sie objektivieren in gewisser Weise den Höreindruck, indem sie visuelle Elemente wegnehmen und die emotionale Ausstrahlung zumindest schmälern. Bei Sängerinnen und Sängern gilt mehr noch als bei Instrumentalisten, dass sie sich selbst aus physiologischen Gründen anders hören als ein externer Hörer – diesen Effekt kennt jeder, der erschrickt, wenn er seine eigene Stimme auf dem Anrufbeantworter hört. Für Ensembles ist das aber ein heilsamer Schock, der dann den Startpunkt für die eigene Weiterentwicklung markieren muss: Jeder Chor und jeder Dirigent wächst an einer Aufnahme.
Wo liegen deine Zielvorstellungen im Chor- und Ensembleklang?
Ich bemühe mich, immer vom Werk und von der Stilistik her denken: Schütz darf (und muss) anders klingen als Nystedt. In einem Werk der Alten Musik, das sehr von Textdeklamation und Rhetorik lebt, wähle ich schon in der Einstudierung einen anderen Zugang als bei einem romantischen Chorsatz, bei dem die Klangverschmelzung einen sehr hohen Stellenwert besitzt. Bei A-cappella-Werken muss der Chor den Klang in jedem Moment selbst tragen, Vokalklang und Legatofluss müssen also die Grundpfeiler sein, auf der ich die Interpretation errichte. Bei Chorsinfonik unterstützen uns die Instrumente bei dieser Arbeit, daher können und müssen wir uns mehr den Konsonanten widmen, Trennung und Profilierung werden viel wichtiger.
Wenn man einen homogenen Chorklang herstellen will, muss man auf einige Grundparameter der Ensembletechnik achten. Sehr knapp ausgedrückt bedeutet das, dass alle zur selben Zeit dasselbe tun. Wir vereinheitlichen also unsere Aussprache, insbesondere die Vokalfärbungen (die auch stark auf die Intonation Einfluss haben), unsere Dynamik und Phrasierung. Auch die Intonation und Balance innerhalb der Stimmgruppe sind ganz zentral für eine überzeugende Klangmischung. Jede und jeder soll gleich viel beitragen.
Als Tipp kann ich empfehlen, mit einer Stimmgruppe oder am besten dem ganzen Chor bewusst einstimmig zu singen und diese einstimmige Melodie richtig zu perfektionieren – in allen oben angesprochenen Belangen. Oft ist das harte Arbeit und echt schwer zu proben! Je öfter man es tut, desto mehr schult man das Ohr der SängerInnen und auch die eigene Wahrnehmung, wie „mehrstimmig“ das Unisono oft klingt.
„Dirigieren ist, von der technischen Seite betrachtet, ein wenig wie Schwimmen: Man kann stundenlang die einzelnen Bewegungen erklärt bekommen und über diverse Schwimmstile philosophieren, aber am Ende muss man ins Wasser.“
Als Dirigent ist man, wie jeder Musikschaffende, im stetigen Prozess des Lernens und der Weiterentwicklung begriffen. Wie würdest du diesen beschreiben? Gibt es da bestimmte Herangehensweisen, die einem in der Reflexion hilfreich oder zielführend erscheinen, oder lernt man ausschließlich durch Erfahrung?
Dirigieren ist, von der technischen Seite betrachtet, ein wenig wie Schwimmen: Man kann stundenlang die einzelnen Bewegungen erklärt bekommen und über diverse Schwimmstile philosophieren, aber am Ende muss man ins Wasser. Dirigieren lernt man ebenfalls hauptsächlich in der Praxis, durch reflektiertes Tun. Dabei ist aber das Technische am Dirigieren nur die eine Seite der Gleichung, und aus meiner Sicht noch nicht einmal die wichtigere. Dirigieren heißt, gestalten zu wollen. Dafür braucht es eine sehr klare Vorstellung von der Musik, ihrer Gestalt, ihrem Klang, ihrer Aussage. Darum ist vor der ersten Probe auch so viel Denk- und Vorbereitungsarbeit am Schreibtisch nötig.
Auch wenn mit der Zeit Erfahrungswissen dazukommt und man auf ein paar bewährte Werkzeuge und Rezepte zurückgreifen kann, muss man sich immer wieder diesen größeren Zusammenhang klar machen und das eigene Tun hinterfragen. Denn der Grat zwischen erprobter Strategie und stereotyper Routine ist oft erschreckend schmal. Für die eigene Selbstkontrolle und Selbstreflexion ist der Austausch mit KollegInnen sehr nützlich, auch eine Video-Aufnahme des Dirigats kann hilfreich sein – und obendrein ein kleiner heilsamer Schock, ähnlich dem bereits geschilderten.
Als Dirigent ist lebenslanges Lernen überlebenswichtig: Immer wieder neue Höreindrücke zu sammeln, andere Aufführungstraditionen kennenzulernen, die Lust auf neue Stücke, neue Herangehensweisen und Methoden wachzuhalten, das ist das Ziel.
Du hast ja bis Juni 2019 in Cambridge studiert. Welche Eindrücke gewinnt man dort? Gibt es Besonderheiten der dortigen Gesangs- und Chorkultur, die dir bislang aufgefallen sind?
Kein anderes Land produziert so routinierte Vomblattsänger wie das englische Chorsystem! Das ist vielleicht eine Binsenweisheit, aber es stimmt wirklich und hängt mit der dortigen Ausbildung zusammen: Von klein auf singen alle „Choristers“ selbstverständlich vom Blatt, es wird viel Wert darauf gelegt und die Zeit zum Proben ist notorisch knapp. Wer mit den Noten nicht hinterherkommt, hat ein Problem.
Im akademisches Umfeld der Universität Cambridge mit ihren 31 Colleges hat sich ein einzigartiges Chorwesen herausgebildet: Die bekannten College-Chöre singen dreimal pro Woche oder sogar täglich einen musikalischen Gottesdienst, meist einen „Evensong“ oder eine „Choral Eucharist“. Dabei wird viel Vokalpolyphonie der Renaissance gesungen, Werke von Palestrina, auch Lassus, Monteverdi, Byrd und Tallis. Daneben gibt es ein riesiges Repertoire an Vertonungen des Magnificat und des Nunc Dimittis, da beides immer im Evensongs vorkommt. Viele Werke sind für die Kirche geschrieben, oft für Chor und Orgel.
Klanglich sind englische Chöre oft mehr oder weniger bewusst dem Ideal des Knabenchores nachempfunden: schlanke Sopran- und Altstimmen (Letztere zumeist mit Countertenören besetzt), brillante und vordersitzige Tenöre sowie sehr sonore Bässe. Die Männerstimmen haben oft ein erstaunliches Volumen und solistisches Vibrato, das uns in Deutschland vielleicht befremden würde. Man könnte auch sagen, dass es im Fortissimo teilweise an meine persönliche Grenze des guten Geschmacks ging… In Sachen Intonation gilt: „Better sharp than out of tune.“
Ansonsten war meine Erfahrung geprägt von spannenden Leuten, die dort studieren, super Lehrern wie zum Beispiel Stephen Layton, phänomenaler Architektur und edlen Dinners wie bei Harry Potter, nur ohne die Eulen und schwebenden Kerzen. Man hatte dabei sogar auch Zauberumhänge an, akademische Roben, sogenannte „gowns“. Es war eine besondere Erfahrung, die mich sehr bereichert hat!
Unterscheidet sich das Musikstudium in England von dem an einer deutschen Musikhochschule?
Cambridge ist eine Universität und keine Musikhochschule, insofern gestaltet sich das Studium anders und hat einen akademischen Schwerpunkt. Mich hat diese Verzahnung zwischen Theorie und Praxis als Ergänzung zu meinen Studien vor allem in Leipzig und Stockholm besonders interessiert. Aber wenn man an einer englischen Musikhochschule studiert, ist es grundsätzlich vergleichbar mit einer deutschen Hochschule. Traditionell wird auf ein gutes und persönliches Betreuungsverhältnis großen Wert gelegt, das hat allerdings auch seinen Preis. Leider ist das Studium in England verglichen mit Deutschland unglaublich teuer.
Der Chordirigent der Zukunft ist…
...ein technisch solide ausgebildeter Dirigent, der mit Chören und Orchestern umgehen kann,
...jemand, der selbst Ahnung von Singen und Stimme hat, der SängerInnen stimmlich coachen kann, Wissen über Stimmhygiene und -physiologie besitzt,
...ein unermüdlicher Verbesserer der Ensembletechnik,
...ein Teamplayer, ein primus inter pares: Die Idee des musikalischen Monarchen oder Taktstock-Tyrannen hat eindeutig ausgedient. Der gegenwärtige Wandel in der Führungskultur zeigt sich auch am Bild eines modernen Dirigenten, und das empfinde ich als sehr angenehm.
Interview: Winfried Hyronimus
Biografie:
Der Stuttgarter Dirigent und Sänger Benjamin Hartmann (*1990) ist künstlerischer Leiter des Maulbronner Kammerchores und des Kulturforums Verum Audium. Er ist Stipendiat im Dirigentenforum des Deutschen Musikrats. Nach Studien in Leipzig, Yale und Stockholm arbeitete er als Dirigent mit namhaften Klangkörpern wie dem Schwedischen Rundfunkchor, Eric Ericsons Kammarkör, Cappella Amsterdam, GewandhausChor Leipzig, Kammerchor Stuttgart und der Gaechinger Cantorey.
Wichtige künstlerische Impulse erhielt er durch Meisterkurse bei renommierten Dirigenten wie Hans- Christoph Rademann, Frieder Bernius, Helmuth Rilling, Grete Pedersen, Daniel Reuss, Simon Halsey und Peter Dijkstra. Veröffentlichungen und Referententätigkeit bei Workshops u. a. zu den Themen Einstudierung/Probenmethodik, skandinavische Chorkultur und Konzertdramaturgie. Benjamin Hartmann engagiert sich ehrenamtlich für den VDKC, AMJ und den Weltjugendchor (WYC). Opernerfahrungen sammelt er seit 2016 als Dirigent und musikalischer Assistent an der Staatsoper Stuttgart, wo er zuletzt mit dem Staatsopernchor bei der Produktion „Erdbeben.Träume“ (UA) zusammenarbeitete.
Bis Juni 2019 lebte Benjamin Hartmann in England, wo er sich in einem einjährigen Studien- und Forschungsaufenthalt an der University of Cambridge intensiv mit der britischen Chortradition auseinandersetzte. Künstlerische Impulse durch Stephen Layton (Trinity College / Polyphony), Paul McCreesh und Voces8 ergänzten seine dortige Ausbildung.
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